Ein in letzter Zeit häufig verlangter und in der Teleakademie des SWR 3
und 3SAT gesendeter Vortrag:
Zivilcourage – in
Deutschland ein Fremdwort?
Zurede zu einer
demokratischen Grundtugend
Obwohl inzwischen als
eine der wichtigsten politischen und menschlichen Grundtugenden
und Bürgerpflichten erkannt, kommt das Wort Zivilcourage in
unserem Grundgesetz nicht vor.
Die Artikel 1 bis 19
enthalten die Grundrechte – die Würde des Menschen, das Recht
auf freie Entfaltung, auf Leben und Unversehrtheit, auf
Gleichheit, Glaubens-, Gewissens-, Meinungs- und
Versammlungsfreiheit, auf freie Berufswahl, auf Eigentum usw.
Auch wenn darin nicht
ausdrücklich enthalten, entsprechen diesen Rechten auch
Pflichten, z.B. Dienstpflichten, Steuerpflicht,
Unterhaltspflicht (das Wahlrecht gehört bei uns nicht zu den
Pflichten).
Und wenn wir daraus
nicht nur eine Schulbankdemokratie mit Institutionen und
Regularien ableiten wollen, ergeben sich daraus auch bestimmte
Gesinnungen, die allerdings nicht festgeschrieben sind. Zu ihnen
gehören die Mitverantwortung, die politische Bildung und
Orientierung, die Toleranz und Gleichachtung anderer, vor allem
von Minderheiten und – dies wird immer deutlicher – auch die
Bürgertugend der Zivilcourage.
Das Grundgesetz hat
seine Prüfung bestanden, aber haben wir, das Volk, schon die
Prüfung vor der Geschichte bestanden? Besitzen wir die
demokratische Qualifikation, die wir im Ernstfall brauchen? Und
der Ernstfall wird nach menschlichem Ermessen im zivilisierten
Europa nicht mehr der Krieg, sondern der Friede sein.
Wenn ich recht sehe,
wächst in unserer Gesellschaft die Tendenz zum Ausweichen, zum
Rückzug: nur nicht auffallen, nur nicht in was hineinkommen, nur
keine Unannehmlichkeiten!
Da werden Tiere –
oder noch schlimmer Kinder – gequält, verhungern gar, ohne dass
Nachbarn (geschweige denn Ämter) dies bemerken wollen oder sich
einmischen oder auch anzeigen. Da werden Ausländer von jungen
Rowdys überfallen, geschlagen, niedergetrampelt – Passanten
schauen zu oder weg, was auf das gleiche hinausläuft.
Wir begehen immer
wieder den 20. Juli und damit das Gedenken an den historischen
deutschen Widerstand vor 65 Jahren, den wir als leuchtendes
Zeichen für Zivilcourage feiern und gleichzeitig zum Beweis
dafür nehmen, dass wir Deutsche doch nicht so untertanenfromm
und diktatorenhörig sind. Diesem gescheiterten
Widerstandsversuch verdanken wir indirekt auch unser Grundgesetz
– von Vorbild und Vertrauen der westlichen Siegermächte in
unsere Wandlungsfähigkeit einmal abgesehen.
Grundlage unserer
Rechts- und Lebensordnung ist die Menschenwürde, deren stummem
Maßstab unsere Gesellschaft ständig unterliegt. Was enthält sie?
Sie zeichnet den Menschen als eine unverlierbare Qualität aus,
die jedem Menschen eigen ist, gleich, ob schwarz oder weiß,
Christ oder Moslem, gesund oder krank, schön oder hässlich,
geistesschwach oder genial, Verbrecher oder Heiliger. Unsere
Verfassung ist von riskanter Weitherzigkeit, gerade an ihren
Fundamenten. Sie ist es aus gutem Grund. In ihr klingen die
Verbrechen gegen die Menschenwürde noch nach aus der Zeit, die
ihr vorausging.
An Menschenwürde und
Menschenrechten orientiert sich auch die Bürgertugend der
Zivilcourage, die sich etwa so definieren lässt: Beherztes
Eintreten von Einzelnen oder Gruppen in kritischen Situationen
für die Rechte von Menschen unter Inkaufnahme von Nachteilen und
Gefahren mit friedlichen Mitteln (übrigens ist nicht nur das
Recht zum Widerspruch, sondern sogar zum Widerstand in unserer
Verfassung verankert, wenn es um den Erhalt der
verfassungsmäßigen Ordnung geht und andere Abhilfe nicht möglich
ist: Art. 20,4)
Deutscher Widerstand?
"Mut auf dem
Schlachtfelde ist bei uns Gemeingut, aber Sie werden nicht
selten finden, dass es ganz achtbaren Leuten an Zivilcourage
fehlt", sagte Bismarck, der damit dieses Wort in die deutsche
Sprache einführte.
Heute ist es in aller
Munde, gleich zeitgemäß und unzeitgemäß, viel gelobt und wenig
geliebt, leicht gesagt und schwer getan, oft genannt, kaum
bekannt – letzten Endes bis heute in Deutschland ein Fremdwort.
Und dabei gelten doch Mut und Tapferkeit als besondere Tugenden
der Deutschen. Sollten sie nur in der Uniform und nicht im
Herzen stecken? Sollte der Mut vor Langemarck und in Stalingrad
geblieben sein, oder ist der zivile Mut vom militärischen so
verschieden, dass man ihn nur mit einem Fremdwort bezeichnen
kann? Auf diesen merkwürdigen Zwiespalt weist Bismarck hin und
führt aus: Wenn ich einem preußischen Leutnant den Befehl
erteile, einen von Feinden besetzten Hügel zu stürmen, wird er,
ohne mit der Wimper zu zucken, aufspringen, seine Brust dem
feindlichen Geschoßhagel entgegenhalten und für das Vaterland
sterben. Bitte ich ihn, wenn es bergan geht, seiner Frau den
Kinderwagen zu schieben, wird er diese Zumutung entrüstet
ablehnen.
Die Fragwürdigkeit
militärischen Mutes auf dem Grunde bedingungslosen
Untertanengehorsams ist heute, nachdem er uns durch die
Katastrophen geführt hat, nicht mehr beweisbedürftig. Aber mit
dem Verlust einer fragwürdigen Tugend haben wir nicht von selbst
eine erstrebenswerte gewonnen. Das zivile Leben scheint uns – da
nicht permanent lebensgefährlich – kein Feld für Bewährung und
persönlichen Mut zu sein.
Eine
Zivilgesellschaft erfordert Zivilcourage.
Das war schon nach
dem 1. Weltkrieg so. Mit Recht hat der damalige Bundespräsident
Johannes Rau im Februar zum 80. Jahrestag der Eröffnung der
Nationalversammlung in Weimar, die die erste demokratische
Verfassung in Deutschland entwarf, mehr Zivilcourage gefordert.
Weimar sei nicht am System zusammengebrochen, sondern weil es
nicht genug überzeugte und das heißt eben auch engagierte
Demokraten gab. In der Tat: 1933 gab es keinen Generalstreik.
Und wo waren bei der verblüffend schnell durchgesetzten
totalitären Diktatur, die auf Menschenrecht und Grundwerten des
Lebens vereidigten Berufsstände, die Richter, die Ärzte, die
Lehrer, die Pfarrer, die sich gegen das Unrecht erhoben hätten?
Als guter Deutscher hatte man zu folgen – schon die Kinder lasen
"Hilf mit". Durch die Schule des deutschen Beamtentums gegangene
Staatsdiener wären allerdings wohl noch zu ganz andern
Erniedrigungen bereit gewesen, um den Herrschenden zu gefallen.
Ich zitiere Alfons
Wenzel: 'Zivilcourage im öffentlichen Dienst':
Als am 1. Mai 1933,
der auf Goebbels Initiative zum nationalen Feiertag ("Tag der
deutschen Arbeit") proklamiert worden war, an die Beamten der
Aufruf erging, mit Hakenkreuz-Armbinde an den Märschen und
Kundgebungen teilzunehmen, folgten fast alle diesem Appell. Die
Beteiligung war so groß, dass einer der Teilnehmer an diesem
Maiaufmarsch in München, ein höherer Staatsbeamter, zu seinem
Nebenmann sarkastisch bemerkte: "Recht geschieht's uns; wenn
morgen einer kommt und befiehlt, dass die Beamten zum Zeichen
der nationalen Gesinnung mit dem Nachttopf auf dem Kopf
aufmarschieren, dann werden sie es auch tun!"
Damals war noch kein
Theodor Heuss Präsident, der einem Juristen bei der Einstellung
erklärte: "Die Pflicht zum Widerspruch ist im Gehalt
inbegriffen."
Welch ein Präsident!
Welch ein Präsident aber auch jener bayrische
Hofgerichtspräsident, der auf das im Jahre 1651 an ihn
gerichtete Ansinnen des Kurfürsten Maximilian, künftig die
Urteile gemäß der Ansicht der Regierung zu sprechen, nur
antwortete, dann wolle er "lieber Sauhirt als Präsident" sein.
Das Ansinnen kam danach häufiger, und an akademischen Sauhirten
wäre bis in die Gegenwart kein Mangel gewesen, hätten sich alle
Richter der Zumutung politischer Justiz versagt.
Zivilcourage ist eine
humane, keine nationale Qualität. So ist nicht erst der deutsche
Widerstand ein Beispiel, an das es zu erinnern gilt.
Als die norwegischen
Nationalsozialisten sich in die Rechtsprechung der Gerichte
einmischten, legten die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes
geschlossen ihre Ämter nieder. Danach stellten die Bischöfe ihr
Amt zur Verfügung, aus Protest gegen den Zugriff auf die
Gerichtsbarkeit und auf die Erziehung der Kinder.
Später legten von 860
Pfarren 800 ihre Ämter nieder, verzichteten auf ihr Gehalt,
hielten jedoch unbeamtet weiter Gottesdienste ab. Es gelang
Quisling nicht, Pfarrer in nennenswerter Zahl zu finden, die ihm
ergeben waren. Am schärfsten spitzte sich der Kampf um die
Schule zu, als das Regime von den Lehrern verlangte, sich dem
nationalsozialistischen Lehrerbund anzuschließen und die Kinder
in seinem Sinne zu erziehen.
12 000 von insgesamt
14 000 Lehrern weigerten sich offen. Quisling versuchte mit
Hilfe der deutschen Besatzungsmacht und der Gestapo, den
Widerstand mit Gewalt zu brechen. Tausend Lehrer wurden
deportiert. Die Kunde von ihrer brutalen Behandlung rüttelte die
Nation erst recht auf und schweißte sie so fest zusammen, dass
der Kampf schließlich mit einer Niederlage für die
Nationalsozialisten endete.
Dieses Beispiel ist
kaum noch bekannt, und ich meine, es verdient aus dem Abgrund
der Vergessenheit wieder in die Gegenwart, mindestens durch eine
solche Erwähnung, hervorgeholt zu werden.
Gab es keine
deutschen Beispiele in jener Zeit?
Widerstand in der
Diktatur
Drehen wir die
Geschichte 65 Jahre zurück: Es ist Krieg. Die Deutschen Soldaten
kämpfen an allen Fronten – tapfer, wie sie es ihrem Ruf in der
Welt schuldig sind. Mancher Heldenfriedhof und mancher
Gedenkstein zeugen davon. Kriegscourage wird uns, wie gesagt,
nicht bestritten.
Aber wo sind die
Gedenksteine für Zivilcourage?
Es ist Krieg. Im
Konzentrationslager Sachsenhausen wird jeden Morgen beim Appell
der SS ein Häftling gefragt, ob er bereit sei, Kriegsdienst zu
leisten. Wenn der Befragte verneint, wird er vor versammelter
Mannschaft gehenkt. Er ist 'Ernster Bibelforscher'. Auf ihn
folgt am anderen Morgen ein anderer.
Augenzeuge ist der
spätere Kirchenpräsident Martin Niemöller. Er berichtet, es sei
nie vorgekommen, dass ein Mitglied dieser Glaubensgemeinschaft
seinen Glauben verraten habe. So wurden etwa 10 000 Zeugen
Jehovas zu Opfern der Diktatur und zu Märtyrern für ihre
Standhaftigkeit im Glauben.
Und die Christen
außerhalb der KZ? Als die deutschen Juden aus ihren Häusern
geholt und in die Lager abtransportiert wurden, nahmen wir das
alle hin. Es sind nur einige Fälle bekannt geworden, in denen
ein Mensch, sich bis zur Hingabe seines Lebens widersetzte so
Janosz Korczak, der mit den Kindern seines Waisenhauses in die
Gaskammer ging, oder Pater Maximilian Kolbe, der sich
stellvertretend für einen Familienvater umbringen ließ.
Was wäre geschehen,
wenn ein ganzes Volk wie ein Mann oder diese zwei gehandelt
hätte? Wäre nicht an diesem massiven Widerstand dann doch die
Vernichtungsmaschinerie zusammengebrochen, wie etwa auch durch
die Predigt des Münsteraner Bischofs Graf Galen gegen die
Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens? Daraufhin wurde
diese Maßnahme zurückgenommen.
Ein anderes Beispiel
ist der Frauenprotest in der Berliner Rosenstraße in der ersten
Märzwoche 1943, von der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita
Süssmuth als 'Widerstand des Herzens' bezeichnet: Mehrere
hundert Menschen, überwiegend Frauen, demonstrierten gegen die
ihnen drohende
Verschleppung ihrer
jüdischen Ehepartner, die in der Rosenstraße, mitten in Berlin,
interniert waren. Fast alle Gefangenen wurden aufgrund des
öffentlichen Protestes wieder frei gelassen. 25, die bereits
nach Auschwitz deportiert worden waren, kamen zurück und
überlebten den Holocaust. "Zivilcourage machte etwas möglich,
was unmöglich erschien." (Rita Süssmuth)
Zivilcourage im
Alltag
Wir täten jedenfalls
gut daran, es auf neue Bewährungsproben nicht ankommen zu
lassen. Wer den Widerstand in lebensgefährlichen Situationen und
Zeiten vermeiden will, tut gut, den Widerspruch zu rechten Zeit
und am rechten Ort früh einzuüben. Darum sagte Willy Brandt mit
Recht: "Wo die Zivilcourage keine Heimat hat, reicht die
Freiheit nicht weit."
Jahre und Jahrzehnte
lang meinten wir, die etablierte Demokratie und die
funktionierende Marktwirtschaft, die Wohlstand für alle zu
sichern schien, hätten das persönliche Engagement mit dem
eigenen Mut zum Risiko
überflüssig gemacht.
Ist sie so vergessen oder so indiskutabel selbstverständlich,
oder was ist der Grund dafür, dass man den Begriff Zivilcourage
im Lexikon vergeblich sucht. In der Demokratie gehört sie aber
zu den elementaren Tugenden. Wer sich dem auf die Dauer
entzieht, darf sich nicht wundern, wenn Gewalt und Willkür,
autoritäre und totalitäre Herrschaft auch bei uns wieder um sich
greifen.
"Jedes Volk verdient
die Regierung, die es erträgt, heißt es im Flugblatt der 'Weißen
Rose'. Die Geschwister Scholl und ihre Gruppe haben ihre
Zivilcourage gegen die Diktatur mit dem Leben bezahlt – übrigens
auch der Denunziant, der Pedell der Universität, der sich später
aus Reue und Verzweiflung das Leben nahm.
An dieser Stelle ist
es Zeit, auch einmal der vielen namenlosen Dissidenten und
Bürgerrechtler in der ehemaligen DDR zu gedenken, die im Kampf
um Freiheit und Menschenrechte, Verhaftung, Folter und Tod auf
sich nahmen.
Stellvertretend für
sie erhielt Wolf Biermann einen Preis für Zivilcourage, mit 150
000 DM dotiert, was ihn zu der sarkastischen Bemerkung
veranlasste: "Armes reiches Deutschland, wo für ein bisschen
Zivilcourage schon Staatspreise verliehen werden müssen."
Aber am Ende des
Widerstandes gegen die DDR-Diktatur stand die 'sanfte
Revolution', die von den Montagsumzügen der Leipziger
Nikolaikirche ausgingen – ein gelungenes Beispiel gewaltfreien
Widerstandes.
Was war das bewegende
und besondere jener Revolution des Jahres 1989 – 200 Jahre nach
der Französischen Revolution? Das Volk ging friedlich auf die
Straße, tat es regelmäßig und wuchs dabei schließlich zu
unübersehbar großen Massen an. Es verhielt sich absolut
gewaltfrei, Sprechchöre artikulierten sich, vor Polizisten
wurden Kerzen entzündet, Blumen überreicht, jede Provokation
vermieden. Klare, einfache Thesen wurden verkündet: Wir sind das
Volk, Demokratie jetzt, freie Wahlen und freie Ausreise: ohne
Visa bis nach Pisa. Das war es – außer der wachsenden inneren
Schwäche des Systems –, was den scheinbar so monolithischen und
mächtigen Staat zum Einsturz brachte.
Und nun können wir in
Ost und West gemeinsam trotz aller noch vorhandenen Differenzen
Jahr für Jahr die deutsche Einheit feiern.
Bei der großen
Abschiedsfeier von Bundestag und Bundesrat, die mit dem
Stabwechsel der Präsidenten verbunden war, pries
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse die Nachkriegszeit als "die
glücklichste Phase deutscher Geschichte". Damit sei der Beweis
erbracht, "dass Geschichte auch einmal gut ausgehen kann". Die
Demokratie in Deutschland werde erwachsen. Darum gilt nun, nach
dem Jahrhundert der furchtbarsten Kriege: Der Friede ist der
Ernstfall, aber auch für ihn müssen wir uns rüsten. Darum
nochmals zur Unterscheidung:
Kriegs- und
Friedensmut
Was ist es, das im
Einzelnen die Zivilcourage, also den Mannesmut vor
Fürstenthronen oder noch mehr: vor Konventionen, von der
Tapferkeit vor dem Feind unterscheidet?
Zunächst wohl dies:
Zivilcourage findet unter sehr viel komplizierteren Bedingungen
statt. Man steht nicht so unausweichlich zwischen Befehl und
Gehorsam, Leben oder Tod, sondern hat meist zwischen sehr viel
schwerer abzuschätzenden Alternativen mit noch unabsehbaren
Konsequenzen zu entscheiden, wenn man in die Lage kommt, sich
gegen die herrschende Macht oder die herrschende Meinung zu
wenden. Die Widerstände wirken nicht nur von außen auf uns ein,
sondern auch von innen, durch das Wertgefüge, in das die Mächte
uns einspannen. Konventionen: wie etwa Vorurteile gegen
Gastarbeiter, Benachteiligung der Frauen im Beruf, und nicht nur
im Beruf, Diffamierung Andersdenkender, kann man schwerlich
bekämpfen, wenn man selbst durch Erziehung oder Gewöhnung von
ihnen geprägt wurde.
Der Gegner steht
nicht sichtbar und als Feind deutlich gekennzeichnet vor uns.
Wir haben es meistens mit unsichtbaren Gegnern zu tun,
mit unrechtmäßigen Machtansprüchen, unbegründeten Vorrechten,
mit Dummheit, Angst, Heuchelei, überlebten Traditionen, Anmaßung
oder mit Zeittendenzen und einer öffentlichen Meinung, die
keinen Widerspruch duldet.
Statt Haut und Leben
wie im Krieg riskiert man Ruhe und Ruf, Ärger, Schwierigkeiten,
Unterstellungen und häufig genug gesellschaftliche Isolierung.
Das Merkwürdige ist,
dass die Zivilcourage als Tugend sich allgemeiner Wertschätzung
erfreut, ebenso wie die mit ihr untrennbar verbundene
Wahrheitsliebe. Das gilt aber nur im Allgemeinen, jedenfalls
dann im Einzelfall nicht, wenn sie sich – und sonst wäre sie
keine Courage – gegen anerkannte Mächte und Meinungen wendet. In
solchen Situationen ist es im Gegenteil sehr riskant, Wahrheiten
beim Namen zu nennen. Die Mächtigen – und auch die Mehrheit ist
eine Macht – schätzen es nicht, wenn unbequeme Tatsachen
überhaupt zur Kenntnis genommen, noch weniger, wenn sie
ausgesprochen werden. Wer ein unbehelligtes und friedliches
Bürgerdasein führen will, tut gut daran, diese Konvention zu
beachten. Der Einzelgänger mit Zivilcourage setzt sich immer dem
Vorwurf aus: "So etwas sagt man eben nicht!", er ist ins
'Fettnäpfchen' getreten. "Dabei tut man in der Regel so, als sei
nicht das kritisierte Übel als solches das eigentlich
Verwerfliche, sondern nur der Umstand, dass es jemand wagt, es
zu erwähnen." (Alfons Wenzel)
Nun gibt es aber
überall Missstände. Soweit es sich um solche von öffentlicher
Bedeutung und politischer Tragweite handelt, wird in der
Demokratie eine wache Presse sich ihrer annehmen, die selbst in
einer freien Gesellschaft eine beträchtliche Macht mit der
Aufgabe der Kontrolle, der Gegenkontrolle darstellt. Auch das
ist nicht ohne Risiko, wie das Schicksal unzähliger kleiner
Journalisten, die Ihre Stellung wechseln mussten, erweist.
Immerhin gibt es hier eine Kollegialität der freien Publizistik,
die heute für den Mutigen das Risiko verringert.
Anders ist das im
Alltag des einzelnen Bürgers, der Missständen ja keineswegs
seltener, sondern wahrscheinlich sogar häufiger begegnet als der
Publizist in einem großen und ganzen rechtlich geordneten
Gemeinwesen. Gegen die Erniedrigung eines Arbeitskollegen im
Beruf, gegen unsaubere Geschäftspraktiken des Vorgesetzten oder
mangelnde Fairness in der eigenen Interessengruppe wirksam zu
protestieren, ist eine dornenvolle Aufgabe. Sehr schnell, so
weist Wenzel in seinem Buch 'Zivilcourage im Öffentlichen
Dienst' nach, erklärt der "Höhergestellte dem Widersprechenden,
sein Ton sei unmöglich, er möge die persönlichen Konsequenzen
ziehen. Der zufällig Mächtigere entzieht dem Unbotmäßigen sein
Vertrauen, selbst wenn zwischen beiden nie ein
Vertrauensverhältnis bestanden hat. Derjenige, der standhaften
Mut bewiesen hat, wird zum Abschießen freigegeben. Der
Höherbezahlte verbreitet herabsetzende und rufschädigende
Äußerungen über den Unverschämten, die von devoten Augendienern
papageienhaft nachgeplappert werden, so dass daraus eine
regelrechte Diffamierungsaktion werden kann". Wir wissen es
alle: Ob wir diplomatisch vorgehen oder nicht: "Es ist
gefährlich, aufrichtig zu sein, außer wenn man auch dumm ist",
wie George Bernard Shaw in seinem "Katechismus des Umstürzler"
schreibt.
Im entscheidenden
Augenblick ist man allein, und ob das Recht, das man in sich,
gegen die Macht, die man um sich spürt, immer stärker sein wird,
ist ungewiss.
Sicher wird man auch
Solidarität erfahren, die vielleicht noch am ehesten der
Frontkameradschaft der Tapferen vergleichbar ist, wenn auch frei
von Kumpelei und Spießgesellentum. Man ist verbunden nicht durch
äußere Gefahr, unfreiwilliges Zusammensein und gleichen
Überlebensinteressen, sondern durch die Sache, die es zu
vertreten gilt, und hat damit eine tiefere Bindung. Diese
Gemeinsamkeit gehört zu den schönsten Erfahrungen für den, der
einmal außerhalb der herrschenden Konvention gestanden hat und
die Menschen nach ihrer Echtheit und Verlässlichkeit zu
unterscheiden lernte. Er wird für den Verlust an Anerkennung und
Lob durch das Verständnis und die Freundschaft kritischer Köpfe
und starker Herzen reichlich entschädigt.
Allerdings gibt es
eine ganz andere, aber nicht minder handlungsfähige Solidarität
auch auf der anderen Seite.
Innere Widerstände
Wenn man Vorrechte
und Vorurteile angreift, wird man den merkwürdigen Konsens der
Mächtigen kennenlernen, der jeden Versuch zum Widerstand
außerordentlich erschweren, ja entmachten kann. Er geht oft quer
durch alle etablierten Institutionen. Das liegt nicht nur an den
Interessen und Privilegien, die vielfach miteinander verflochten
sind, sondern auch an einem feiner gesponnenen Netz
gegenseitiger Rücksichtnahme, das nicht minder zäh ist.
Schließlich hat man nicht nur selber Bedenken, sondern muss auch
noch die Bedenken anderer bedenken. Was wird man – je nach
ausmaß des Falles – im bischöflichen Ordinariat oder im
Landeskirchenamt, im Innenministerium oder auch nur bei der
Mehrheitsfraktion im Gemeinderat, beim Vertriebenenverband oder
der Berufsorganisation der Schornsteinfeger, was werden vor
allem der Chef oder die Nachbarn, die Presse und das Ausland
dazu sagen, das Landvolk und die Frauenverbände? Wer will sich
schon mutwillig Ärger auf den Hals hole, Beschwerdebriefe,
Telefonate und sich nachher womöglich noch mit allen Leuten
herumstreiten?
So stellt sich leicht
das Gefühl ein: Es nützt ja doch nichts. Ich schade vielleicht
nur anderen und mir selbst. Und man droht zurückzusinken in den
Privatismus, den man eben noch zu sprengen im Begriffe war. Man
sagt sich: Jeder andere lebt ja auch unauffällig, man tut das
Seine, sorgt für das Seine. Warum gerade ich?
Der Privatismus der
übrigen ist nicht nur wegen seiner Ansteckungskraft gefährlich,
sondern er schlägt auch – plötzlich kollektiv vereint – über
dem, der sich exponiert, zusammen. Jeder, der nur für sich
sorgt, unterstellt das auch jedem anderen. Wer zu feige ist,
gegen offenbare Missstände aufzutreten, ist meistens auch zu
feige, seine Unterstellungen offen auszusprechen. So begegnet
der Mutige nur den Spuren des Klatsches, einer schwer zu
fassenden Isolation, mit der jeder rechnen muss, der aus der
Konvention heraustritt und sie damit für fragwürdig erklärt.
Das ist nicht weiter
schlimm, solange Zweifel und Anfeindung außen bleiben. Schlimm
wird es erst, wenn sie unter die eigene Haut gehen und sich mit
eigenen Bedenken und Vorwürfen verbinden. Kann es denn sein,
dass ich recht habe und die Mehrheit unrecht? Normen, die von
früher her binden, setzen sich in den Nacken: die
Gehorsamsforderung der Gesellschaft, die gerechte Weltordnung,
die man antastet, wenn man sich gegen eine Autorität oder gegen
eine herrschende Meinung stellt. Die Frage: Bin ich legitimiert,
sind meine Motive lauter, hätte nicht nur ein besserer Mensch
als ich ein Recht, diese Sache zu vertreten? Man prüft sich, und
das ist gut.
Manchmal heißt es
auch, Zivilcourage gegen sich selbst zu üben! Goethe hat recht,
wenn er im 'Tasso' sagt: " Der Mut stellt sich die Wege kürzer
vor".
Vielleicht legt man
die Hand an den Pflug und blickt zurück, und das ist schlecht.
Die eigene Vergangenheit, die genossene Erziehung, vermögen
nicht nur zu tragen, sondern auch zu lähmen. Im Grunde verlangt
Zivilcourage psychologisch etwas fast Paradoxes: Die Vereinigung
von Sensibilität, Gerechtigkeitssinn, Mitgefühl auf der einen
und Stärke, Selbstvertrauen, Entschlusskraft auf der anderen
Seite – eine nicht selbstverständliche und darum sicher auch
seltene Kombination.
Es gibt keine
Zivilcourage in Permanenz, mitunter liegt sie nur in einem
Punkt, in dem sich gereifte Erkenntnis und dunkle Eingebung,
Naivität und Kalkül, Spekulation und Faszination treffen. "Auch
der Mutigste von uns", sagt Friedrich Nietzsche, "hat nur selten
den Mut zu dem, was er eigentlich weiß."
Es sind immer nur
bestimmte Situationen, in denen Zivilcourage von uns verlangt
wird, auch in demokratischen Gesellschaften. Für die
Zivilcourage gilt dasselbe, was Reinhold Niebuhr von der
Demokratie sagt: "Die Fähigkeit des Menschen zur Gerechtigkeit
macht sie möglich, aber die Neigung des Menschen zu
Ungerechtigkeit macht sie nötig". Wenn die Macht auf Seiten des
Unrechts und das Recht auf Seiten der Ohnmacht ist, wird
Zivilcourage fällig. Bleibt sie aus, so ist im Denken und Fühlen
der Menschen die Relation von Macht und Recht schon gestört –
und das ist schlimmer als in den äußeren Verhältnissen – oder es
wird die Folge sein. Innere Freiheit bei äußerer Unfreiheit,
innere Wahrhaftigkeit und private Rechtsgesinnung bei
verbreiteter Lüge und herrschendem Unrecht auf die Dauer
bewahren zu wollen, ist eine bürgerliche Illusion.
Unrecht, das nicht
angegriffen, Unwahrheit, die nicht widerlegt, falsche
Vorurteile, die nicht aufgeklärt werden, verbreiten sich weiter
und gelten schließlich als gerechtfertigt. Macht, die als
Willkür über die Stränge schlägt, erfordert als Pendant die
freie Ohnmacht, die als Zivilcourage über die Stränge schlägt.
Welcher Art sind
unsere Bewährungsproben, in denen es Zivilcourage zu zeigen
gilt?
Sie sind nicht
vorausberechenbar, treffen uns meistens unerwartet, sind aber
zahlreich wie Sand am Meer, und man kann nur einige wenige
stellvertretend für tausend andere nennen.
Es beginnt bei der
Verkäuferin, von er wir uns etwas aufschwatzen lassen, weil wir
nicht wagen, abzulehnen und unverrichteter Dinge zu gehen,
nachdem sie uns einige Artikel gezeigt hat. Oder dass wir uns am
Schalter unhöflich behandeln lassen, ohne höflich zu bitten,
höflicher zu sein. Wagt jemand von uns, einen nicht ganz
korrekten Kassenzettel im Supermarkt zu reklamieren, jemanden
anzusprechen, der bei einer Warteschlange sich vorzudrängeln
versucht, einer Mutter, die ihr Kind offensichtlich falsch
behandelt, einen freundlichen Rat zu geben, dem Quälen von
Tieren, der Erniedrigung von Menschen im Betrieb, dummen
Redensarten über unseren Staat oder die Verharmlosung des
sogenannten "Dritten Reiches" entgegenzutreten, die Teilnahme am
Klatsch über Abwesende zu verweigern, seinen vollen Namen unter
einen Leserbrief zu setzen? Wagen wir etwas gegen einen
Vorgesetzten zu sagen, obwohl wir ganz genau wissen, dass er
Verwendungsnachweise für den Rechnungshof frisiert, nicht ganz
korrekte Beurteilungen schreibt, zu Autoritätspersonen
freundlich ist und sie anschließend schlecht macht, der sich
verleugnen lässt, obwohl er da ist, gegen den Lehrer, der eine
einseitige Meinung vertritt und keine andere gelten lässt, und
was der Situationen mehr sein mögen.
Der Alltag könnte
auch so aussehen:
Münchner U-Bahn:
Helllichter Nachmittag, kurz vor 17.00 Uhr. Die Abteile sind
halbgefüllt, als drei kräftige Kerle – kurzer Haarschnitte,
Lederjacke, Lederstiefel – hereinpoltern und nach kurzer Umschau
in der Sitzecke, in der noch drei Sitze frei sind – den vierten
hat eine farbige Schülerin besetzt – sich lärmend auf die Sitze
fallen lassen. Sie fangen an, zweideutige Witze über das schon
verängstigte Mädchen zu machen, rücken ihr Zentimeter für
Zentimeter näher, und schließlich legt einer der – offenbar
angetrunkenen – Burschen seine Prankenhand auf ihre kleine,
versucht sie umzudrehen mit der Frage: "Bist du da drunter
eigentlich auch schwarz?" Das Mädchen schreit vor Angst auf, und
je mehr es sich wehrt, umso mehr Spaß haben die Kerle, und umso
zudringlich-dreister werden sie.
Der ganze Wagen hat
inzwischen wie gebannt die Blicke auf die Szene gerichtet –
teils entsetzt, teils angewidert, teils verängstigt und
fluchtbereit, nur eine einfache Frau, noch dazu eine zierliche
Erscheinung, erhebt sich entschlossen, geht auf die Gruppe zu
und sagt kurz und energisch: "Lasst das Mädchen in Ruhe, sonst
kriegt ihr's mit mir zu tun!"
Was die Drohung
beinhaltet, ist schwer zu ermessen, denn einer körperlichen
Auseinandersetzung wäre sie in keine Weise gewachsen. Aber die
Worte wirken: Der Bursche zieht seine Hand zurück, macht noch
eine nicht verständliche Bemerkung, und alle drei trotten zur
Tür und lehnen sich an die Trennwand – leise palavernd –, bis
sie an der nächsten Station sich verdrücken und aussteigen.
Die Menschen im Wagen
sind erleichtert und beglückwünschen die Frau. Eine Mitfahrerin
steht auf, keiner sonst hätte in dem Ereignis einen Anlass zur
Zivilcourage gesehen. Und dies ist die leider häufigere
Erfahrung. Fernsehteams haben mehr als einmal Situationen
simuliert, in denen auf der Straße ein Schwächerer von einem
vermeintlichen Rowdy angegriffen, geschlagen und niedergeworfen
wurde. So gut wie immer gingen die Passanten weiter, schauten
weg oder schauten sogar interessiert, aber tatenlos zu. Ein
Beispiel entnehme ich der Presse: Ein sechzehnjähriges Mädchen
wird in der S-Bahn zwischen Bochum und Dortmund von drei
siebzehn- bis zwanzigjährigen jungen Männern sexuell belästigt.
Schließlich nehmen die drei ihr noch Handy, Schuhe und Geldbörse
weg. Das Mädchen verließ auf Socken den Zug. Die Täter entkamen
unbehelligt. Zivilcourage ist bei uns noch viel zu ungeübt,
zugegeben: auch nicht immer ungefährlich. Darum wohl schauen die
meisten weg und mögen weder Haut noch Ruf riskieren. Aber
offenbar ist auch eine in Jahrzehnten entwickelte Demokratie,
ein Netz, das auf Freiheit und Gleichberechtigung beruht, von
Zeit zu Zeit auf diese Risikoakte zivilen Mutes angewiesen.
Risiko ist der Preis der Freiheit!
Risiko – Preis der
Freiheit
Sollten wir dies
vergessen oder verdrängen, so verspielen wir damit auch Stück um
Stück politische Moral und Menschenrechte. Kommt eine
Gesellschaft erst einmal auf die schiefe Bahn, beschleunigt sich
ihr Absturz ständig.
Wodurch wird ein
mutiges Engagement in unserer Gesellschaft erschwert? Am meisten
wohl durch den Pluralismus und den Individualismus, die
Kehrseite unserer Freiheit in einer marktwirtschaftlichen
Konsumgesellschaft. In ihr wird der Bildungskanon von anderen
Programmen und Richtzielen bestimmt. Schüler müssen an
effiziente Abschlüsse und – ebenso wie ihre Lehrer und
Berufsausbilder – an die künftige Karriere denken. Man will 'in'
sein, aber nicht non- konformistisch. Dabei ist Erziehung heute
an sich schon ein Unternehmen, das Zivilcourage erfordert –
gegen Elternverwöhnung und Kinderwillkür, gegen Jugendterror und
Medienkonkurrenz.
Auf der anderen Seite
fühlen sich Schüler und Auszubildende häufig überfordert, wenn
sie gegen autoritäre Amtsanmaßung, ungerechte Beurteilung oder
gegen geisttötende Lernzwänge protestieren sollen. Es könnte ja
schließlich die Abschlussnote und das Fortkommen gefährden.
Darum ist die
wichtigste Voraussetzung für die Überwindung alltäglicher
Konfliktsituationen die ständige Bereitschaft zum Dialog. Mehr
denn je brauchen wir Menschen, die zum Gespräch über die Fronten
und über die Grenzen hinaus bereit sind. Solche Brückenbauer und
Grenzgänger sind oft nicht besonders beliebt. Aber sie haben
eine große Chance, je mehr sich Gegensätze und Spannungen in der
Gesellschaft zuspitzen und zu verhärten drohen.
Oder anders
ausgedrückt: Zivilcourage sollte so selbstverständlich werden,
dass sie aufhört, Courage zu sein, einfach, weil man sich
aussprechen darf und aufeinander hört. Die beherzte Aussprache –
nach Theodor Heuss eine "heilsame Kraft" – könnte
klimaverbessernd wirken, Vertrauen schaffen und vor allem jenes
sichere Bescheidwissen, unter dessen Mangel so viele Menschen
leiden, die einfach nicht wissen, woran sie mit ihrem Gegenüber
oder mit dem, der Macht über sie ausübt, eigentlich sind.
Denken wir dabei auch
an den leitenden Amtsträger, also den Machthaber.
Auch er ist ein
Mensch. Der Selbstherrliche, der Autokrat ist meist einsam und
auf Zugang und Zuspruch, Kontakt und Kritik angewiesen. Er
erfährt sie aber nicht, weil viel zu viele Kritik denken, ohne
sie zu äußern. Gedachte Kritik ist nicht viel wert: Sie fördert
Neurosen und vergiftet Beziehungen. Demokratie lebt vom offenen
Vertrauen, das Differenzen ausspricht und nicht verbirgt. So
sagt Goethe – sonst nicht gerade der ideale Kronzeuge für
Zivilcourage –: "Den Menschen und den Sachen gerade in die Augen
zu sehen und sich dabei auszusprechen, wie einem eben zumute
ist, dieses bleibt das Rechte, mehr soll und kann man nicht
tun." Oder Theodor Fontane – noch freundlicher: "Der Mut, den
wir einzig und allein gebrauchen können, ist das Resultat der
Liebe, der Pflicht, des Rechtsgefühls, der Begeisterung und der
Ehre. Er ist nicht angeboren, sondern er wird, er wächst."
Können wir also
annehmen, dass Zivilcourage erlernbar ist? Und worauf sollten
wir achten – schon um uns nicht in die aussichtslose Ecke zu
manövrieren, in der die Querulanten, Rechthaber und Fanatiker
sitzen?
Einige Regeln für die
Praxis
Zunächst negativ: Man
sollte das Notwendige bis zur letzen Möglichkeit vertreten, aber
nicht das Unmögliche zu erzwingen versuchen, um daran nicht zu
zerbrechen und die Sache, um die es geht, nicht zu Tode zu
reiten. Das geschähe durch die Verwendung rabiater,
erpresserischer Mittel, Intrigen im Kleinen und publizistische
Hetzagitationen im Großen. Auch bei einer legitimen Maßnahme:
Arbeitnehmerstreik, Studentendemonstrationen oder
wahrheitsgemäßer Berichterstattung ist zu fragen: Nützt oder
schadet sie der Sache und dem wohlverstandenen
Allgemeininteresse? Immer aber stehen Demonstrationen ohne
Gewalt und Drohung der Zivilcourage besser an.
Die Ziele müssen
deutlich erkennbar sein: Zivilcourage ist Zielcourage. Gezielte
Demonstrationen haben schon viel erreicht und erreichen
hoffentlich überall da, wo Menschen und ihre Freiheiten
unterdrückt werden, die Umkehr zu einer Demokratie, die
Menschenwürde und Menschenrechte achtet!
Ein paar Hinweise und
Hilfen für den Einzelnen, der sich im Augenblick der
Herausforderung leicht allein gelassen fühlt:
-
Zunächst mache ich mir die Sachlage und natürlich auch die
Rechtslage klar: Bin ich im Recht, wenn ich etwas angreife oder
kritisiere?
-
Dann versuche ich, Herr meiner Gefühle und Energien zu werden.
Ich muss mich entschließen, mir einen Ruck geben und aus meiner
Passivität heraustreten.
-
Darauf muss ich mir die Worte und Schritte überlegen, mit denen
ich auf eine Situation einwirken will. Oft ist es allerdings
auch richtig, ganz spontan auf eine Herausforderung zu
antworten, in einem Notfall zuzuspringen.
-
In
der Regel werde ich mich auf ein energisches und klares Wort
ohne Zorn- und Wutausbrüche beschränken und nur im äußersten
Notfall mit der Tat eingreifen.
-
Ich frage mich auch: Wie hoch ist mein Risiko? Werde ich hier
gebraucht oder muss ich andere hinzuziehen? Verbündet und
gemeinsam hat man meistens mehr Erfolg.
-
Nicht sich drücken, sondern sich ausdrücken ist die Devise, die
weiterhilft. Mich befreit sie und macht sie stärker – dem
anderen hilft sie und gibt ihm neuen Mut.
Diese Regeln scheinen
mir das Grundmuster eines Verhaltens zu sein, das wir auch in
der Demokratie in das komplizierte Netzwerk der alltäglichen
Beziehungen eintragen müssen und das – um wenigstens zum Teil im
Bild zu bleiben – zugleich das Auffangnetz für den
demokratischen Drahtseilakt ist. Denn die institutionelle
Demokratie lebt stets in einer gefährdeten Balance, die in der
Krise nur dann nicht im Absturz endet, wenn sie sich auf ein
eingeübtes System der Bürgercourage verlassen kann, die
Missstände schnell erkennt und überwindet, weil sie gewohnt ist,
das Recht nicht nur zu genießen, sondern auch zu vertreten.
Anders als die
Tapferkeit vor dem militärischen Gegner, die oft der
Todesverzweiflung entspringt, lebt die Zivilcourage aus
Lebensmut und Lebenshoffnung. So verstand sie auch John F.
Kennedy. Am Schluss seines Buches mit dem Titel 'Zivilcourage',
das längst ein Klassiker ist, schrieb er: "Lebensmut mag oft
weniger dramatisch erscheinen als letzter Todesmut... Um
Zivilcourage zu beweisen, bedarf es keiner außerordentlichen
Fähigkeiten... Auf welchem Kampfplatz des Lebens auch Mut
gefordert wird, welches Opfer wir unserem Gewissen auch bringen
müssen – Verlust von Freundschaft, von materiellem Vorteil, von
Gemütsruhe, ja sogar der Achtung unserer Mitmenschen –, jeder
von uns muss letzten Endes immer wieder allein entscheiden,
welchen Kurs er einschlagen will. Wir können aus historischen
Berichten von Zivilcourage... lernen, wir können Hoffnung und
Eingebung von ihnen empfangen, doch nicht Zivilcourage selbst.
Diese muss jeder in seiner eigenen Seele suchen."
Sie setzt also innere
Freiheit voraus, aber sie ist auch die Voraussetzung der
Freiheit unseres Gemeinwesens.
Die Freiheit ist
keine Torte, die genossen, sondern ein Muskel, der trainiert
werden will. Ein nur passives und formales Verständnis der
Freiheit und der Demokratie ist auf die Dauer gefährlich, ja
tödlich. Zivilcourage – sozusagen die Macht der Ohnmächtigen –
ist als solche eine sowohl politische wie elementar christliche
Tugend unter dem Anspruch des Petruswortes: "Man muss Gott mehr
gehorchen als den Menschen."
So gehört sie im
Grunde nicht nur in den staatlichen Katalog von Bürgerrechten,
in den ethischen von Bürgertugenden, in den pädagogischen von
Lernzielen, sondern auch in den christlichen Wertekanon. Daran
erinnert auch Dietrich Bonhoeffer, der evangelische Theologe,
der wegen seiner Beteiligung am 20. Juli kurz vor Ende des
Krieges hingerichtet wurde. Beeindruckt durch die Nachricht vom
Misslingen des Attentats und den sicheren Tod vor Augen, schrieb
er ein Gedicht, aus dem diese Zeilen unsere Überlegungen
abschließen sollen:
"Nicht das Beliebige,
sondern das Rechte tun und wagen,
nicht im Möglichen
schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht
der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem
Zögern heraus in den Sturm des Geschehens,
nur von Gottes Gebot
und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird
deinen Geist jauchzend empfangen."
(Siehe auch: Ulrich
Beer „Lebenskraft aus Lebenskrisen“, Echter-Verlag Würzburg
2000, 344 Seiten, 20 Euro)
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*
Je
reifer die Trauben, desto besser der Wein
Der
Schriftsteller Ulrich Beer feierte seltene Jubiläen und ergänzt die
Vielzahl seiner Bücher durch
eine kompakte und handliche Zusammenfassung seines Gesamtwerkes,
die kleinen Lebenshelfer.
Von Siegfried Scharf
Eisenbach
(SIS). Ist es Zufall oder Fügung? Gerade am Tag des 100jährigen
Jubiläums von Rotary International (23. Februar 2005) konnte ein überzeugter
Rotarier ein Doppeljubiläum begehen: Es ist der Schriftsteller Prof.
Dr. Ulrich Beer, Eisenbach-Oberbränd, der vor fünfzig Jahren
sein Doktorexamen gemacht hat und just jubiläumsbezogen mit fünfzig
kleinen Lebenshelfern überrascht, die im Rahmen einer neuen
Schriftenreihe des Centaurus Verlages Herbolzheim herausgekommen
sind.
Kreativ
war Ulrich Beer schon immer. Das verdeutlichen seine geschriebenen
achtzig Bücher, die der 73jährige aneinander gereiht, ordentlich
auf seinem großen Schreibtisch in seiner Wahlheimat Oberbränd
aufgestellt hat. Seine Kreativität stellte er auch gerade jüngst
unter Beweis, als er den neuen Verein „Förderkreis Kreatives
Eisenbach“ mit initiierte, in dem es darum geht, junge Talente für
die Schriftstellerei zu interessieren und Stipendien zu vergeben.
Zu
seinem kreativen gesellt sich gerade in diesem Jahr auch das
produktive Schaffen hinzu. Wo gab es das schon, dass ein Autor in
einem einzigen Jahr fünfzig Bücher mit je fünfzig Seiten Inhalt
herausbringt? Zugegeben, dass er das nur mit einem reichen Fundus
an Lebenserfahrungen tun konnte, an dessen Anfang seine
Doktorarbeit stand.
Diese
entstand während seines Studiums an der Rheinischen Friedrich
Wilhelm Universität in Bonn. Er promovierte über das Thema
„Die Ausdruckstheorie von Charles Darwin und ihre Kritik" -
eine Dissertation, die auch als Buch heraus kam, das aber wie so
viele seiner Bücher inzwischen vergriffen ist. Deshalb reifte in
ihm die Idee, aus dem Vollen seiner schriftstellerischen Arbeiten
zu schöpfen und eine fünfzigbändige „Beerenauslese“
zusammenzustellen. Dabei kamen ihm seine bisherigen beruflichen Tätigkeiten
zugute; denn viele wissen, dass er dreißig Jahre lang die
ZDF-Sendung „Ehen vor Gericht" fachlich begleitet hat und
bei vielen Vorträgen und Seminaren Ratschläge und
Lebenserfahrungen vermittelte. Manche gefährdete Ehe hat der
„Doktor der Philosophie" wieder gekittet; meist nach persönlichen
Beratungen. Solche nahm er 15 Jahre lang auch in den Medien vor.
Wer weiß schon, dass er über 25.000 Zuschriften schriftlich
beantwortet hat?
Als
er seine Gedanken beim Centaurus Verlag Herbolzheim ausbreitete,
kleine Lebenshelfer herauszugeben, fand er sofort ein offenes Ohr.
Mit diesem Verlag arbeitet er nämlich bereits seit Jahren
zusammen. Er brachte dort die Schriftenreihe „Lebensformen“
heraus, für die er verantwortlich zeichnet. Inzwischen sind von
33 geplanten Bänden dieser Reihe 24 erschienen, unter ihnen auch
Bücher der einheimischen Autorinnen und Autoren Roswitha
Stemmer-Beer, Dr. Rudolf Köster und Siegfried Scharf.
Für
die angelaufene neue Schriftenreihe „Kleine Lebenshelfer"
scheint der Erfolg schon vorprogrammiert zu sein. Das zeichnet
sich bereits jetzt ab; denn die Nachfrage ist sehr groß. Was hier
der Leser besonders schätzt, ist, dass nicht langatmig, sondern
kompakt und komprimiert, facettenreich und farbig die Probleme
angegangen und gangbare Lösungswege aufgezeigt werden. Hinzu
kommt, dass die Bände kleiner sind als das normale
Taschenbuchformat und dass sich fünfzig Seiten Inhalt auch auf
einen erschwinglichen Preis auswirken. Ein weiterer Vorteil: Der
Leser kann sich auf (s)ein bestimmtes Thema konzentrieren.
Und
für eine Themenvielfalt wird garantiert. Die ersten Bände
behandeln die Themen Partnerfindung, Beziehung, Außenkontakte,
Eifersucht, Gegensätze, Väter, Sexualerziehung und Kreativität.
Zu den kleinen Lebenshelfern gehören Geschwisterrollen,
Kinderfernsehen, Autorität, Intimbegegnung und Entscheidung. Von
Ehefrau und Ehemann ist die Rede, von Lerntechnik, Erfolg,
Vorurteilen, Eheleben und Krisen. Wissen über Altersliebe,
Bibelweisheiten, Trennung, Pubertät, Familiendemokratie,
Freizeitfamilie und die Mutter wird vermittelt. Ulrich
Beer spricht ebenfalls Themen an, wie Sexualität, Sprachausdruck,
Zeithaben und Selbstwertstärkung. „Ehekriegsspiele" werden
in zwei Bänden entwickelt und dargestellt. Man erfährt über
Humor, Glück, Motivation, Einzelkind, Familienplanung und
Gottvertrauen, über Alleinsein, Alter, Lebensängste, Familie,
Sucht, Scheidung und Verliebtheit. Und schließlich werden in zwei
weiteren Bänden Aussagen über Handschriften (eine Spezialität
von ihm als Graphologen) und Farben getroffen. Wer also ein
bestimmtes Thema sucht, wird sicher fündig.
Die
Quellen scheinen unerschöpflich zu sein und man bekommt auf
insgesamt 2.500 Seiten bestätigt, dass Ulrich Beer aus dem
umfangreichen Reservoir seines Schaffens die Perlen herausgepflückt
hat. Wer nämlich in den einzelnen Bänden liest, mag zu dem
Urteil gelangen: Ulrich Beers „Beerenauslese“ ist voll geglückt;
denn je reifer die Trauben im Alter, desto besser der Wein.
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